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"Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muß man vor allem ein Schaf sein." (Albert Einstein)

Wörtliches Verstehen ist gar nicht so lustig

Ein Kommentar


Dass Autistinnen und Autisten vieles wörtlich verstehen, kann man in diversen Publikationen nachlesen und hört man auch immer mal wieder auf Vorträgen. Zur Verdeutlichung werden Beispiele genannt und jeder, der diese Beispiele liest oder hört, amüsiert sich darüber.

Ich gehöre zu den Menschen auf dem Spektrum, die tatsächlich sehr vieles wörtlich verstehen. Und zwar immer noch. Um zu verdeutlichen, was wörtliches Verstehen bedeutet, erkläre auch ich es Interessierten anhand von Beispielen. Die bei mir stets aktuell sind, eben, weil es mir trotz meines Alters immer noch passiert und das übrigens gar nicht so selten.

Wenn ich Anekdoten des wörtlichen Missverstehens erzähle, dann klingen die von außen gesehen natürlich lustig. Und ich selbst, als diejenige, der das schon wieder einmal passiert ist, lache zusammen mit den anderen. Was sollte ich auch sonst tun? Verzweifeln ist ja keine Option. Aber hey, Leute, es macht keinen Spaß, die Protagonistin solch „lustiger“ Anekdoten zu sein. Immer wieder, immer noch. Trotz aller Lebenserfahrung. Es macht keinen wirklichen Spaß, zu so vielen Gelegenheiten damit konfrontiert zu werden. Es frustriert mich und ich komme mir Jedes. Einzelne. Mal. ziemlich dämlich vor, wenn ich darüber stolpere, dass ich wieder einmal etwas wörtlich und damit leider falsch verstanden habe.

Denn dieses wörtliche Verstehen hat natürlich Folgen und meistens sind die nicht wirklich spaßig. Im Beziehungs- oder Arbeitskontext normalerweise schon gar nicht. Normalerweise deshalb, weil ich das große Glück habe, einen humor- und verständnisvollen Partner und eine Arbeitsumgebung mit Kolleginnen und Kollegen zu haben, wo tatsächlich jeder mit all seinen Eigenarten wertgeschätzt wird und zwar in echt, nicht nur auf dem Papier. Hier ein Paar der Anekdoten aus jüngerer Zeit. Hahaha.

Es besteht die Gefahr, dass ich ein Meeting versäume, wenn der Termin für das „Jour fixe“-Meeting verlegt wird, damit aber eigentlich ein anderes Meeting gemeint ist. Das relevante Detail, dass die Mitteilung, dass das „Jour Fixe“ verschoben wird, nur Personen mitgeteilt wurde, die normalerweise bei diesem anderen Meeting mit dabei sind, ist mir aber leider erst aufgefallen, während ich laut sagte, dass der Termin fürs „Jour Fixe“-Meeting doch verschoben worden wäre und ich dadurch allgemeine Verwirrung ausgelöst hatte.

Es kann vorgekommen, dass ich wertvolle Arbeitszeit darauf verschwende, nachzuprüfen, in welche Richtung Personen auf Bildern schauen, nur, weil unter mitgeposteten Bildern steht: „X und ich schauen gerade“. Dass damit eine Online-Veranstaltung gemeint war, an der X und Y just in dem Moment teilgenommen hatten, hatte sich mir erst nach einiger Zeit erschlossen, zumal eine meiner Aufgaben an diesem Tag darin bestand, für ein Projekt erstellte Inhalte zu peer-reviewen. Deswegen hatte ich den Satz in eben diesem Kontext verstanden und versucht, Feedback zur Blickrichtung der Personen auf den geposteten Bildern geben zu können, was mir natürlich misslang.

Über Missverstehen, das nur ich bemerke, kann ich lautlos hinweggehen. In Situationen, wo sich mein Missverstehen quasi öffentlich auflöst, entschuldige ich mich und versuche nach Möglichkeit zu erklären, wie es dazu kommen hat können. Wenn das zu viel Zeit kosten würde, lasse ich es aber. Schon weil ich mir unsicher bin, ob meine Versuche, das Phänomen des wörtlichen (Miss)Verstehens zu erklären, überhaupt irgendjemanden weiterbringen. Mich offensichtlich ja nicht, weil es mir immer wieder passiert.

Was mich zugegebenermaßen beunruhigt ist, dass ich nicht weiß, wie hoch der Anteil ist, bei dem ich Dinge falsch, weil wörtlich verstanden habe. Denn ich kann ja nur die Anekdoten zum Besten geben, bei denen dieses Missverstehen sich für mich aufgelöst hat. Übrigens: Latent verunsichert zu sein, ist ebenfalls nicht lustig.

Bildquelle: Peggy und Marco Lachmann-Anke (2017, 31. Juli). https://pixabay.com/de/illustrations/sprache-a-b-c-abc-m%c3%a4nnchen-2557036/

Autor: SWB

Bildungs- und Medienwissenschaftlerin M.A., Erziehungswissenschaftlerin B. A, Steuerfachangestellte mit Montessoridiplom, ich arbeite am Institut für Digitale Teilhabe (IDT) der Hochschule Bremen als wissenschaftliche Mitarbeiterin und forsche zum Thema "Digitale Barrierefreiheit im Arbeitsleben durch partizipative Evaluation". Ich bin eine viellesende Autistin und engagiere mich aktiv in der Selbstvertretung. Ich äußere mich zwar am liebsten schriftlich, halte aber trotzdem und gerne Vorträge über das Thema Autismus.

Ein Kommentar zu “Wörtliches Verstehen ist gar nicht so lustig

  1. Liebe Silke, ich hoffe, ich darf du schreiben. Danke für deinen Beitrag. Ich musste schmunzeln, denn das wortwörtliche Verstehen kenne ich auch von mir. Die Beispiele, die du nennst, könnten 1 zu 1 von mir stammen. Ich vermute bei mir auch Autismus, habe aber noch keine Diagnose. Danke, dass du deine Erfahrungen mit uns teilst. Liebe Grüße Simone

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