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"Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muß man vor allem ein Schaf sein." (Albert Einstein)

Autismus und komorbide Erkrankungen

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Realitätsdiffusion als Grundlage für eine Angststörung?

Ich habe neben meiner Autismus-Diagnose gleichzeitig auch Angststörungen diagnostiziert bekommen. Angst begleitet mich schon mein Leben lang. Das wurde mit steigendem Alter nicht besser. Ich habe nach wie vor viele Ängste. Nur die Ängste veränderten sich über die Zeit. Manche irrationalen Ängste aus meiner Kindheit habe ich überwunden, manche erlebe ich heute noch genauso schlimm wie früher. Andere, sehr realistische Ängste sind mit steigendem Alter und dem wiederholten Scheitern an Anforderungen, denen man sich als Erwachsener gegenüberstehen sieht, dazu gekommen.

Woher kommen meine Ängste? Seitdem ich lesen kann, suche ich Antworten auf das Leben in Büchern. Dabei las ich schon sehr früh schwierige Bücher, Horrorgeschichten, SciFi / Fantasy, Selbsthilferatgeber, Psychologie- und Pädagogikbücher und Bücher mit gesellschaftskritischen Inhalten.

Für mich war meine Bücherwelt real. Ich habe da nie gelernt, in meinem Miterleben zu trennen zwischen echter Realität und fiktiver Realität. Ich glaube, ich habe damals großen Schaden an dem, was man Seele nennt, genommen, als ich H.P. Lovecraft und Edgar Allan Poe las. Schon weil ich manches von dem, was ich gelesen habe, bis heute nicht bewältigt habe. Ich kann es nur leider nicht vergessen. Innerlich abhaken als, ist ja nur ein Buchinhalt, keine Realität, Buch zuklappen und gut ist es, verschwindet im Nebel der Zeit, funktionierte damals nicht und funktioniert bis heute nicht. In meinem Kopf gibt es bei diesen Inhalten keine Nebel der Zeit. Ich konnte auch sehr selten mit jemandem darüber reden, weil ich auf kein Verständnis gestoßen bin. Du spinnst ja, ist doch nur ein Buch, waren noch die harmlosen Reaktionen, wenn ich versucht hatte, mit anderen über mein Erleben zu sprechen.

Schon als Kind habe ich mannigfaltige Ängste entwickelt. Ich traute mich nicht, eine Hand oder einen Fuß über die Bettkante hinaushängen zu lassen, letztendlich dann nicht mal mehr, irgendetwas von mir nicht unter der Bettdecke zu verstecken – im Sommer trotz massiver Schwitzattacken. Ich traute mich nicht, die Kellertüre aufzumachen und im Dunklen nach dem Lichtschalter zu tasten. Wenn mich meine Mutter in den Keller schickte, um etwas aus dem Vorrat zu holen, stand ich so massive Ängste aus, dass ich Angst hatte, dort unten im Keller ohnmächtig zu werden. Ich traute mich irgendwann nicht einmal mehr, an der Kellertüre vorbeizugehen, wenn ich alleine zu Hause war. Das sind in einem bestimmten Alter zwar normale Ängste, aber zu der Zeit war ich schon fast erwachsen.

Ich habe es offenbar bis heute nicht gelernt, die Realität von Fiktion zu trennen und komme außerdem mit vielen Dinge überhaupt nicht klar, ich kann sie einfach nicht verarbeiten. Nicht einmal im Traum.

Ich habe seit ich mich erinnere, Träume, die so realistisch sind, dass ich nach dem Aufwachen ziemlich lange brauche, um zu kapieren, dass die Dinge, die ich geträumt habe, nur im Traum geschehen sind. Bis heute verschwimmt das in meinem Kopf. Ich hatte eine Phase, von der zehnten Klasse bis zur Schwangerschaft (ab da starb dann immer eines meiner Kinder), in der ich das Phänomen erlebt habe, immer denselben Traum zu träumen, zwar mit Variationen der Landschaft bzw. des Gewässers, aber mit immer demselben Trauminhalt, nämlich Haien, die mich erwischten, sogar, wenn ich an Land stand. Das war wohl die Folge meines Versuches, so wie meine Klassenkameraden „Der Weiße Hai“ anzugucken, was mir nicht gelang, ich musste den Fernseher abschalten. Zum Glück kam dieser Traum irgendwann dann nicht mehr, aber die neuen Trauminhalte waren um nichts leichter zu ertragen. Ich erinnere mich an Dinge, die so nie geschehen sind, von denen ich nur träumte. Aber diese Erinnerungen sind mit allen Gefühlen da. Weil ich bis auf sehr wenige Ausnahmen, die ich an den Fingern meiner beiden Hände abzählen kann, ausschließlich Albträume, also Träume mit extrem bedrohlichem Inhalt oder Träume, in denen meine Kinder oder ich tatsächlich sterben habe, habe ich also sehr viele „Erinnerungen“ an traumatische Erlebnisse, die in meinem Kopf als reales Erleben gespeichert sind. Ich weiß zwar einige Zeit nach dem Aufwachen, dass es nie passiert ist, aber meine Gefühle wissen das nicht.

Ich kann bis heute keine Horrorfilme ansehen. Leider habe ich das als Jugendliche über die Methode „Versuch macht kluch“ herausgefunden. Als ich im Bett meiner Eltern Carrie – des Satans jüngste Tochter (wo am Ende des Films dann ihre Hand aus dem Grab kommt) angeguckt hatte, vor Angst schlotternd, ich wollte nach dem Film nicht alleine in meinem Zimmer schlafen, aber meine Eltern lachten über mich und meine Angst, hatte ich danach unglaublich viel Angst vor Friedhöfen. Bis heute gehe ich mit einem mulmigen Gefühl möglichst nicht allzu nah an Gräbern vorbei. Der Fehler, sich „Jurassic Park“ anzusehen, hat mir neben irrationalen Ängsten vor Tyrannosaurus Rex und vor allem vor Velociraptoren leider Bilder im Kopf beschert, die ich nie mehr losgebracht habe und die beim daran Denken enormes körperliches Unwohlsein und Angst in mir auslösen. Das gleiche passiert, wenn in Nichthorrorfilmen die Kamera zeigt, dass jemand ungesichert in großer Höhe oder an einem Abgrund steht, das schaffe ich nicht, ich muss dann wegschalten oder das Zimmer verlassen, weil ich so große Angst empfinde. Von „Alien“ habe ich aus Versehen eine einzige Szene gesehen und die verfolgt mich auch bis heute. Genau wie die Wesen aus H.P. Lovecrafts und Edgar Allan Poes Geschichten, die nur durch einen dünnen Schleier von unserer Wirklichkeit getrennt leben. Ich frage mich immer noch, wie die Autoren auf ihre Ideen kamen, wenn sie diese Wesen nicht selbst gesehen haben und ich befürchte, obwohl ich in einem Alter bin, in dem man das nicht mehr tun sollte, dass es solche Wesen wirklich gibt.

Unschön ist ein viel zu euphemistischer Begriff dafür, was die fehlende Fähigkeit, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden, mit mir gemacht hat und nach wie vor mit mir macht. Gesund ist es nicht. Wegen dieser Realitätsdiffusion habe ich wohl schon sehr lange eine beschädigte Psyche. Ich glaube, dass meine fehlende Fähigkeit, trennscharf zwischen Realität und Fiktion unterscheiden zu können, maßgeblich an der Entwicklung meiner Angststörungen beteiligt war.

Ich kann mir bei Filmen und Büchern noch so oft sagen, dass etwas nicht real ist. Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass ein Autor oder Drehbuchschreiber solche Phantasien haben kann, bleibt die Angst davor, dass die Fiktion eben doch real ist. Und weil ich Zeitung lese, werden daneben sehr realistische Ängste genährt. Denn obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass man solche grausamen Dinge mit seinen Mitmenschen macht, wie ich sie in der Zeitung lese, lese ich doch tagtäglich von eben solchen für mich unvorstellbaren Dingen, die Menschen einander offenbar tatsächlich antun. Ist das nun ein Mangel an Vorstellungsvermögen bzw. Phantasie oder viel zu viel davon? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich mich Zeit meines Lebens vor allem Möglichen und Unmöglichen geängstigt habe und sich die Tatsache, dass ich ein überdurchschnittlich ängstlicher Mensch bin, wohl bis zu meinem Lebensende nicht ändern wird.

Bildquelle: Peggy_Marco (2015) URL https://pixabay.com/de/illustrations/angst-gefahr-schrecken-horror-1027574/

Autor: SWB

Bildungs- und Medienwissenschaftlerin M.A., Erziehungswissenschaftlerin B. A, Steuerfachangestellte mit Montessoridiplom, ich arbeite am Institut für Digitale Teilhabe (IDT) der Hochschule Bremen als wissenschaftliche Mitarbeiterin und forsche zum Thema "Digitale Barrierefreiheit im Arbeitsleben durch partizipative Evaluation". Ich bin eine viellesende Autistin und engagiere mich aktiv in der Selbstvertretung. Ich äußere mich zwar am liebsten schriftlich, halte aber trotzdem und gerne Vorträge über das Thema Autismus.

2 Kommentare zu “Autismus und komorbide Erkrankungen

  1. Auch meine Angststörung ist fast gleichzeitig mit der Asperger Diagnose gestellt worden. Früher, wenn XY ungelöst kam, habe ich mich hinter dem Sofa versteckt und heute schalte ich das gar nicht erst ein. Wenn ich Krimis gucke, nur solange bis es brenzlig wird und ich nicht ständig überlegen muss – ist das nun Fiktion oder Wirklichkeit!

    Danke, dieser Artikel spricht mir aus der Seele.

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  2. Auch ich kann heute (im reifen Erwachsenenalter!!!) Fiktives-Grausames kaum von der Realität unterscheiden, das gelingt nur zeitverzögert mit Vernunfts-Aufarbeitung, dann ist es meist bereits zu spät. In der Theorie weiß ich um das Phänomen, aber in der entsprechenden Situation, in der es zu handeln gilt, ist es nicht möglich adäquat zu reagieren. Und ja, das Außenstehenden zu erklären, ist fast unmöglich. Erkläre jemandem, der eine Frucht noch nie gegessen hat, deren Geschmack, er wird den Geschmack nicht schmecken. Erkläre einem von Geburt an blinden Menschen die Farbe Blau, er wird die Farbe nicht (so) sehen wie wir …
    Man kann allen Betroffenen und noch nicht Diagnostizierten nur gute Diagnostiker wünschen, da manch einer von ihnen auch nur (diverse ASS-)Phänomene nachvollziehen kann, die er selbst erlebt hat… gerade in der Autismus-Diagnostik gibt es selbst in renommierten Autismus-Diagnostik-Zentren mächtigen Weiterbildungs-Nachhole-Bedarf, auch was die hohe Sensitivität betrifft: Kleine Buchanregung dazu: „Der Junge, der zu viel fühlte“ von Lorenz Wagner

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